Besuch in Odessa
Donnerstag, 03. Juli 2008
Am Nachmittag fahre ich mit der Marschutka 127 zur Segetskaja Straße im Primorski Raion. Ich besuche Jewgenia Maximowma, eine 97jährige mit deutschen Wurzeln. „Ich hab viel Schönes erlebt, aber auch viel Schreckliches“ sagt sie mir.
Jewgenia Maximowma wohnt im 3. Stock einer Chruschtschewka, ein Wohnblock aus den 1960ern. Flur, Wohnzimmer, ihr Zimmer, Küche, Bad … alles sehr klein, die Decken niedrig. Sie wohnt hier mit ihrer Tochter und einem 17jährigen Urenkel, der oft zu ihr sagt, „Babuschka, tui nje snajesch“. – „Oma, das weißt du nicht.“ „Aha“, erwidert sie ihm, „aber du weißt es wohl?“
In der Wohnung leben zwei Hunde: Lada, eine weiße Hündin, die wie eine Mischung aus Labrador und Windhund aussieht, und ein kleiner Feger. Dazu fünf Katzen, die sich am liebsten in der Küche aufhalten. Wir essen Weißbrot mit Wurst und Tomaten und trinken Nescafé dazu. Jewgenia Maximowma jagt die Katzen fort, aber sie kommen immer wieder, die Biester.
Ihre ersten Jahre verbrachte Jewgenia in einer Sieben-Zimmer-Wohnung an der Kanatnaja Straße Ecke Gretschska. Sie lebte dort mit ihren Großeltern und Eltern, einer Haushälterin und einer Köchin. Im Wohnzimmer, erinnert sie sich, standen rote Plüschmöbel: ein Diwan, zwei Sessel, sechs weiche Stühle. Der Parkettboden war mit einem großen Teppich belegt. Im Esszimmer gab es einen schönen Linoleumboden, einen großen Tisch mit vielen Stühlen, ein Büffett und Regale. Die Räume wurden mit Kerosinlampen beleuchtet, schon bald aber kam elektrisches Licht. Den Sommer verbrachte die Familie in ihrem Landhaus in Großliebenthal, einem deutschen Dorf unweit Odessas.
»Ich hab viel Schönes erlebt, aber auch viel Schreckliches, sagt sie mir.«
Als Kind ging Jewgenia jeden Morgen mit ihrer Njanja, dem Kindermächen, im nahe gelegenen Park spazieren. Sonntags durfte sie ein schönes Kleid anziehen, sonst immer ein bescheideneres. 1918 sollte sie eingeschult werden, doch wegen der Revolution hatte man die „guten Schulen“ geschlossen, bzw. man hatte die alten Lehrer entlassen und neue, ungelernte eingesetzt. Jewgenia bekam eine Hauslehrerin. Sie schrieb sich Briefe mit ihrem Onkel. Der Onkel schickte ihr einmal eine große Puppe mit vielen Kleidern.
Jewgenia heiratete einen Russen: „Er war ein guter Mann, er hat mich auf Händen getragen.“ 1937 wurde er während einer der stalinistischen Säuberungen verhaftet und bekam fünf Jahre Lager. Von dort schickte man ihn direkt in den Krieg, zur berittenen Artillerie der Roten Armee. Jewgenia zog mit ihrer Mutter und ihren zwei Töchtern zu Verwandten nach Leningrad. Sie gerieten in die Blockade. Die Ration: 125 Gramm Brot pro Tag. Die Mutter verhungerte, Jewgenia floh mit ihren Kindern über den Ladoga See und dann mit dem Zug nach Sibirien, wo sie fünf Jahre blieb. Ihr Mann war irgendwo im hohen Norden, es gab keinen Kontakt. Nach elf Jahren fand er Jewgenia und die Mädchen wieder, starb aber nach drei weiteren Jahren, denn er hatte seine Gesundheit eingebüßt.
Jewgenia Maximowna sieht nur noch auf einem Auge und hört nicht mehr gut. Das Erzählen macht sie müde. „Ja schdu tebja“, ich warte auf dich, sagt sie mir zum Abschied und küsst meine Wangen.
Zum Odessa-Roman "Die Reise des Guy Nicholas Green"
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