13.04.2023 / Gedanken | Thoughts, Erinnerungen | Memories

Danke für Deinen Brief – Teil 1: Der Lippenstift

Die erste Russin, die ich in natura sah, trug ein Kostüm aus Rock und Bluse. Jemand hatte ihr einen schmalen Blumenstrauß überreicht. Es muss am Karl-Marx-Denkmal gewesen sein, am Nischl, wie wir zu sagen pflegten.

Meine Schulklasse war ins Zentrum von Karl-Marx-Stadt kommandiert worden, als lebendes Wink-Element. Einer Delegation aus Wolgograd sollte der Empfang bereitet werden, und wie konnte das überzeugender gelingen als mit winkenden Kindern?

Der Besuch hing zusammen mit der Eröffnung einer neuen Straße am Stadtrand. Die so getaufte Wolgograder Allee schwang sich, frisch asphaltiert, kühne zwei Kilometer lang durch das Grenzland des Fritz-Heckert-Gebiets, einer Plattenbau-Monokultur, die ich in den 1980er Jahren mein Zuhause nannte.

Die Russin stand weit weg von uns, ich konnte kaum Einzelheiten erkennen. Nur ihr Lippenstift leuchtete: ein kleines, zweizeiliges Leuchtfeuer in Orange, das die Sonne weithin zum Strahlen brachte. Eine solch grelle Farbe hatte ich zuvor nie gesehen. Schon gar nicht auf einem Mund.

Meine Schulfreundinnen und ich lachten. Dieser Lippenstift schien uns wahnsinnig übertrieben. Liefen bei den Russen alle Frauen so herum? Litten sie an Geschmacksverirrung? Gab es keine Lippenstifte in normalen Farben zu kaufen? Ich entschied mich für Letzteres. Denn dass es in Sowjetläden nichts Gescheites geben konnte, da war ich sicher.

»Gleichzeitig empfand ich eine heimliche Bewunderung für die Fremde aus Wolgograd. Sie wirkte so … elegant. Eine Dame, die nicht in mein Bild passte.«

 

Gleichzeitig empfand ich eine heimliche Bewunderung für die Fremde aus Wolgograd. Sie wirkte so … elegant. Eine Dame, die nicht in mein Bild passte. Denn für mich gab es auf der ganzen Welt nichts Uncooleres als die Sowjetunion, deren sämtliche Bewohner ich gleichsetzte mit dem von den Erwachsenen abfällig gebrauchten Ausdruck: die Russen. Oder schlimmer noch: der Iwan.

Meine kindliche Vorstellung von den Menschen dort verdankte ich nicht zuletzt diversen Witzen über die Dummheit und kriminelle Veranlagung von Rotarmisten. Zu Kriegsende angekommen im zivilisierten Deutschland, hatten diese Tröpfe aus der Taiga nicht verstanden, dass man für fließendes Wasser mehr braucht als einen in die Wand geschlagenen Wasserhahn. Sie kapierten auch nicht, dass ein Klosett nicht zum Waschen von Kartoffeln dient. Sie klauten Uhren und Fahrräder. Zappzarapp! Sie nahmen sich einfach, was ihnen gefiel und womit sie in ihrer Heimat prahlen konnten.

Die Russen – das waren Lachnummern. Einerseits. Andererseits waren sie unsere Befreier vom Faschismus, wobei das Wörtchen frei im Umgang mit ihnen keine Rolle zu spielen schien. Im Gegenteil. Sie hatten uns in der Hand, hatten uns die lebenslange Freundschaft mit ihnen verordnet. Sie zwangen uns sogar, ihre Sprache zu lernen. Ich sollte zu diesem Zweck schon ab der dritten Klasse auf eine Spezialschule gehen, doch meine Eltern sagten Nein.

Als in der normalen Schule in der fünften Klasse der Russischunterricht begann, war kaum einer begeistert. Russisch — wozu sollten wir das lernen? Wir wären eher scharf auf englisch gewesen, denn das hörten unsere Eltern im Westradio. Die kyrillischen Buchstaben sahen komisch aus; plötzlich waren wir wieder Schreibschüler. Und voller Verachtung. On idjot. Das hieß für uns nicht, „Er geht.“, sondern „Er ist ein Idiot.“ Etwas anderes konnte es gar nicht bedeuten. Dass unser Russischlehrer geisteskrank war (heute würde man einen solchen Menschen bipolar nennen und in die Psychiatrie einweisen), passte ins Bild.

»Die Hexe Baba Jaga in ihrer Hühnerfußhütte hatte es mir so angetan, dass ich sie hingebungsvoll malte, heimlich imitierte und zum Fasching jahrelang nur als Hexe gehen wollte.«

 

Gleichzeitig – und hier begann mein persönlicher Zwiespalt – liebte ich sowjetische Märchenfilme. Die Hexe Baba Jaga in ihrer Hühnerfußhütte hatte es mir so angetan, dass ich sie hingebungsvoll malte, heimlich imitierte und zum Fasching jahrelang nur als Hexe gehen wollte. Ich verschlang den Zauberer der Smaragdenstadt von Alexander Wolkow, eine russische Nachdichtung des amerikanischen Kinderbuchklassikers The Wonderful Wizard of Oz.

Auch im Musikunterricht, wenn es mal keine Kommunistenlieder zu schmettern gab, vergaß ich meine Abneigung, denn Prokofjews Peter und der Wolf gefiel mir ausgezeichnet. Auch das Geburtstagslied vom Ziehharmonika spielenden Krokodil mochte ich. Noch dazu konnten die Russen Eiskunstlaufen! Jenes Land, das sich auf den Rollkarten im Geografiezimmer so riesig erstreckte, hatte also zumindest in Musik, Film, Literatur und Sport Großes hervorgebracht.

 

 

English version

Thank you for your Letter

Part 1: The Lipstick

The first Russian I saw in real life was a woman wearing a formal skirt and a blouse. Someone had given her a slim bouquet of flowers. It must have been at the Karl Marx monument, called Nischl (noggin) by the locals. My class had been commandeered to the city center as a living Winkelement—warm bodies used for waving during parades. We were to welcome a delegation from the city of Volgograd. What could be more charming on such occasions than waving children? The visit was connected to the inauguration of a new road on the outskirts of town. The so-baptized Wolgograder Allee, freshly asphalted, snaked for two kilometers along the frontier of Fritz Heckert Gebiet—a plattenbau monoculture I called home in the 1980s.

The Russian guest stood far from us. I couldn’t make out any specifics. Only her lipstick struck me: a thin, twin-lined fire in orange, reflecting the sun. I’d never seen such a garish color. Especially not on any mouths. My friends and I laughed. We thought that lipstick was terribly over the top. Did all Russian women walk around like this? Did they have poor taste? Were there no lipsticks in normal colors available in their country? I opted for the latter; I was convinced Soviet stores had nothing decent to sell.

All the while I secretly admired the stranger from Volgograd. She seemed so … elegant! — a lady who didn’t fit into my mould. Back then, nothing in the whole wide world could be more "cringe" than the Soviet Union, whose people I equated with the derogatory phrase used by the adults around me: die Russen. Or worse: der Iwan. I owed my childhood idea of them to certain jokes relating the stupidity and criminal minds of Red Army soldiers. Arriving in Germany at the end of the war, those dummkopfs from the Taiga didn’t grasp that in order to get running water you needed more than a tap driven into the wall. They tried to wash potatoes in water closets. They stole watches and bicycles. Zappzarapp! They simply took what they liked and what lended itself to bragging back home.

So on the one hand, Russians were a laughingstock. On the other hand, they had freed us from fascism—although the word “free” didn’t seem to matter much in our dealings with them. On the contrary: they called the shots, coercing us into a lifelong “friendship” with them. They even forced us to learn their language. To that end, I was asked to attend a special school from third grade on. My parents said, No. When Russian lessons started in the fifth grade of my regular school, nobody got excited. Russian – what should we learn that for? Our parents listened to music with English lyrics. The Cyrillic letters looked weird; we had to learn how to write all over again. We were full of contempt. ”Ohn idyot”. To us, that didn’t translate as “He walks.”, but “He is an idiot.” What else could it mean? The fact that our teacher was mentally ill (nowadays you’d call someone like him bipolar and admit him to psychiatry), didn’t help.

At the same time—this is where I felt torn—I loved Soviet fairytale films. I was so smitten with the witch Baba Yaga whose cottage was mounted on a chicken foot, I drew pictures of her and secretly rehearsed her lines. For years, I wanted to be nothing but a witch at carnival. During music lessons, when we didn’t have to belt out communist songs, I forgot my aversion too: Prokofiev’s “Peter and the Wolf” delighted me, as did the birthday tune sung by a crocodile playing the concertina. Plus the Russians really knew how to figureskate! That country covering such vast terrains on the roll-up maps in our Geography classroom had produced masterpieces—at least in the fields of music, sports, and children’s television.

 

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