Danke für Deinen Brief – Teil 2: Eine Strickjacke für den Baikalsee
Eines Tages dann, ich war vielleicht elf, erhielt ich einen Brief. Die Absenderin aus der Sowjetunion hatte eine Zeitschrift gelesen mit Adressen von DDR-Kindern, die Briefpartner suchten.
Sie pickte sich eine Anschrift in Karl-Marx-Stadt heraus, vielleicht, weil sie von der Stadt schon gehört hatte in einem damals in der Sowjetunion populären Lied. Sie änderte die Hausnummer, weil sie glaubte, der Inserent würde schon zu viele Zuschriften erhalten und sie bekäme dann keine Antwort. In die Zeile für den Empfänger schrieb sie auf Russisch, „An einen unbekannten Freund“.
Ich weiß nicht, welche sächsische Briefträgerin am Tag X in meiner Plattenbauzeile am Hang die Post austrug. Ob es eine junge Frau war oder eine ältere, eine mollige oder eine schlanke, ob sie durch Schnee stapfte oder ihr die Sonne auf der Haut brannte. Aber ich stelle mir vor, wie sie in meinem Hauseingang steht, vor den Briefkästen, das kuriose Kuvert in der Hand.
Sie studiert die Vorderseite mit den blauen Linien, der Briefmarke für fünf Kopeken mit dem Aufdruck CCCP. Sie überlegt, in welchen Schlitz sie den Brief werfen soll. Es steht ja kein Name darauf. Welche der zwölf Familien im Haus hat ein Kind im passenden Alter für Brieffreundschaften? Sie versucht sich zu erinnern, aber es gelingt ihr nicht recht. Vielleicht ist sie nur eine Aushilfe aus einem anderen Postleitzahlengebiet und hat gar keine Ahnung. Eine Postbotin, die Fee spielen soll.
»Du hast einen Brief, müssen meine Eltern gesagt haben, denn das sagten sie immer, wenn ich Post erhielt.«
„Du hast einen Brief“, müssen meine Eltern gesagt haben, denn das sagten sie immer, wenn ich Post erhielt. Heute bedauere ich, dass ich den bedeutsamen Augenblick vergessen habe. Auch was in jenem ersten Brief stand, weiß ich nicht mehr. Nur dass mir jemand auf Russisch geschrieben hatte, ein ganzes Blatt voller kyrillischer Buchstaben, daran erinnere ich mich, denn diese Erfahrung war verbunden mit Staunen.
Vermutlich hat sich das Mädchen aus Leningrad damals ganz normal vorgestellt. Wie sie hieß (Ewgenia, kurz Genia mit weichem Sch am Anfang), wie alt sie war (zwei Jahre jünger als ich), wo und mit wem sie wohnte (in einer Schlafstadt wie meiner, mit den Eltern und einem kleinen Bruder, wie ich), was sie in ihrer Freizeit machte (Gymnastik).
Genia aus Leningrad, einer Stadt, die im Krieg zweieinhalb Jahre lang von den Deutschen belagert gewesen war. Aber diese Katastrophe erwähnte sie nicht, denn das war vor unserer Zeit gewesen und wir sollten ja Freundinnen werden. Ich habe mich hingesetzt und ihr geantwortet. Mit dem Wörterbuch habe ich kleine, mühsame Sätze auf Russisch verfasst, wobei ich schnell merkte, dass der Schulunterricht für das Übermitteln persönlicher Botschaften nahezu nutzlos war.
Und so habe ich im Großen und Ganzen auch kaum noch eine Ahnung davon, welche Informationen oder sogar Emotionen Genia und ich in den ersten Jahren unseres Kontakts tauschten. Sicher weiß ich nur, dass wir einander Abziehbildchen und ähnliches schickten. Und dass jeder Brief mit dem schön geschwungenen kyrillischen 𝒟 für Dorogaja Genia bzw. Dorogaja Diana (Liebe Genia; Liebe Diana) begann, gefolgt von dem immer gleichen Satz: Danke für deinen Brief.
Und es blieb nicht bei Genia. Eine zweite Brieffreundin kam hinzu: Larissa aus Irkutsk. Eine Stadt in Sibirien, am Baikalsee, dem tiefsten Süßwassersee der Erde. Einfach märchenhaft. Leider währte diese Freundschaft nur kurz – obwohl mir Larissa ein Geschenk machte, das ich noch heute in meiner Truhe mit Kinderbüchern und altem Spielzeug aufbewahre.
Es ist eine Puppe mit wachsweißem Gesicht, in grünem Häubchen und Minikleid. Ein russisches Grünkäppchen, ein zartes Geschöpf, über das ich mich ehrlich gesagt nicht so recht freute, denn ich liebte Puppen mit dunkler Hautfarbe, Negerpuppen genannt, wobei sich niemand etwas Abwertendes dachte.
Das konnte Larissa nicht wissen. Immerhin, sie schien ein geschäftstüchtiges Mädchen zu sein. Als Gegengeschenk für die kukla wünschte sie sich von mir eine kofta. Meine Mutter studierte das Wörterbuch, rätselte über das Ansinnen. Wollte das Mädchen wirklich eine Jacke von uns? Fror sie im sibirischen Winter? Weinte sie mit ihrer Mutter im Kaufhaus von Irkutsk vor leeren Kleiderbügeln?
»Wurde das Päckchen von der sibirischen Postfrau gestohlen? Hat Larissa die Jacke nicht gepasst? Hat sie ihr nicht gefallen?«
Soviel stand fest: auch in Karl-Marx-Stadt war gute Kinderkleidung Mangelware. Man musste sie, wie fast alles außer Mischbrot und Kohlköpfen, erwischen, indem man sich, der Intuition folgend, am richtigen Tag zur richtigen Stunde in die richtige Schlange stellte.
Larissa hat auch das bestimmt nicht geahnt. Trotzdem wollten wir sie nicht enttäuschen. Und so organisierte meine Mutter (ob neu aus dem Centrum Warenhaus oder abgelegt von meinen Cousinen, die sie von ihrer Westverwandtschaft geerbt hatten, weiß sie nicht mehr) eine gar nicht üble Strickjacke. Wir schickten sie auf die Reise … und hörten nie wieder ein Wort aus Irkutsk.
Noch heute spekulieren wir, was passiert ist. Wurde das Päckchen von der sibirischen Postfrau gestohlen? Hat Larissa die Jacke nicht gepasst? Hat sie ihr nicht gefallen? Hatte das Mädchen mit dem Ziel, etwas zum Anziehen zu bekommen, die Freundschaft zu mir nur geheuchelt? Hat sie sich auf diese Weise, dank mehrerer Briefpartnerinnen, neu eingekleidet?
Liegt die Strickjacke heute, all die Jahre nach dem Abtauchen Larissas, auf dem Grund des Baikalsees, ihre Maschen ein Zuhause für Flohkrebse? Wir wissen es nicht.
Fortsetzung folgt.
English version
Thank you for your Letter
Part 2: A Cardigan for Lake Baikal
Then, one day, I may have been 11, got a letter. Only my city and street address were written on the envelope. The sender from the Soviet Union, looking for penpals, had gone through a magazine listing addresses of East-German children. She’d picked an address in Karl-Marx-Stadt, maybe because she’d heard of the town in a song that was popular back then with Russians. She figured the person advertising in the magazine would be getting lots of mail already, leaving her without a reply, so she changed the house number. Instead of a name, she wrote "to an unknown friend".
I don’t know which Saxon mailwoman was on duty on day X, delivering letters and postcards to my row of plattenbau tenements on a sloping hillside. Was she a young woman or an older one? Chubby or slender? And how was the weather that day? Did the mailwoman come plodding through heavy snows or was she sweating in the sun? I imagine her there, standing in my block’s entrance, in front of the mailboxes, with the mysterious envelope in hand. She studies the elegant handwriting and the stamp for 5 kopecks. She wonders which slot to drop the letter into. Which of the twelve families living here has a child of suitable age? She can’t quite seem to remember. Maybe she’s only a substitute from a different district, and completely clueless. A mailwoman supposed to play Lady Luck.
„You got a letter,“ my parents would have said—as usual when I received a piece of mail. I regret not remembering that significant moment. Nor do I recall the contents of that very first letter. Only the fact that someone had written to me in Russian struck: an entire page filled with Cyrillic script. I guess the girl from Leningrad simply introduced herself. Her name: Evgenya, shortened to Genia with a very soft G. Her age: two years younger than me. Her accomodation: a bedroom community just like mine, where she shared a flat with her parents and a younger brother, just like me. Her hobby: gymnastics.
Genia from Leningrad—a city that had been occupied by the Germans for two and a half years during the war. Genia didn’t mention that atrocity; it happened before our time and now we were supposed to become friends. I sat down to write a reply. With the help of my dictionary, I labored to compose a few statements in Russian, realizing that my school lessons were useless for conveying intelligible ideas or messages. Given these limitations, I couldn’t tell you what news or even emotions Genia and I shared in our first years of correspondence. But I know for sure that every letter started out with the beautifully curved Cyrillic D for Doragaya Genia/Doragaya Diana (Dear Genia/Dear Diana), followed by the standard opening line: ”Thank you for your letter“.
Before long, a second penpal entered the scene. Larissa from Irkutsk; a city in Siberia on the shores of Lake Baikal, the deepest freshwater lake on earth. Simply magical. Sadly, our friendship didn’t last… although Larissa gave me something I still keep in my trunk full of old toys and childrens’ books. Her gift to me was a doll with a pasty-white face, clad in a green bonnet and a minidress. A Russian ”Little Green Riding Hood“. A wispy creature. I didn’t get very excited, preferring dolls of much darker complexion called Negerpuppen (negro dolls) without the slightest hint of disrespect. Larissa didn’t know that, of course. But she seemed to have a talent for business. As a return present for the kukla (doll), she asked me for a kofta. Puzzled by her request, my mother pored over the Russian dictionary. Did the girl really want a jacket from us? Was she freezing in the Siberian winter? Was she crying with her mom in front of empty hangers in the department store of Irkutsk?
That much was certain: in Karl-Marx-Stadt too, quality childrens’ clothes were hard to come by. Like just about everything but bread and cabbage, they were a lucky find. The only way to get your hands on them was by following your intuition, patiently waiting in the right line at the right hour on the right day. Still, we hated to disappoint Larissa. Eventually, my mother organized (whether brandnew from Centrum Warenhaus or handed down from some West-German cousin, she doesn’t recall) a fairly nice cardigan for my Russian penpal. We sent it off… and never again heard a word from Irkutsk.
To this day, we speculate about what might have happened. Did a Siberian mailwoman steal the package? Was the cardigan the wrong size? Didn’t Larissa like it? Had she, desperate for something to wear, only feigned her friendship? Did she fill her wardrobe courtesy of penpals all over the world? Is the cardigan, all these years later, now lying on the bottom of Lake Baikal, its stitches a home for copepods?
We have no idea.
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