Die Kinder von Odessa
Das sind Vadik und Vika. Ich habe sie 2008 in Odessa kennengelernt. Sie waren damals 8 Jahre alt und wohnten in der Olgievskaja Straße westlich der Altstadt.
Es war Sommer. Meist hingen die beiden im Hof herum. Wenn ich sie traf, fragte ich „Kak djela?"“ Wie geht's? Vika, um Coolness bemüht, zuckte dann meist die Achseln und sagte, „Normalno.“ Normal halt, alles okay! Was sollte schon anderes sein? Für richtige Unterhaltungen war mein Russisch zu schlecht. Doch im Herbst 2008, als ich wieder in der Stadt war und wieder bei einem amerikanischen Freund in der Olgievskaja 17 wohnte, lud ich die Kinder zu einem Zirkusbesuch ein.
Dass ich die Karten bezahle, musste ich den Müttern klar und deutlich sagen, erst dann waren sie beruhigt. Sie hatten kein Budget für Luxus.
»Der Zirkusbesuch war schön, vor allem aber war er ganz und gar „normalno“.«
Damals habe ich in meinem Tagebuch über den Ausflug geschrieben. Lese ich die Zeilen heute wieder, kommen sie mir unwirklich vor. Der Zirkusbesuch war schön, vor allem aber war er ganz und gar „normalno“ – völlig normal und in Ordnung – eine Beschreibung, die man derzeit nirgends zu hören bekommt und auch selbst nicht aussprechen kann.
Was ist aus Vika und Vadik geworden? Sind sie noch in Odessa oder längst ausgewandert? Sitzen sie gerade, vielleicht schon mit eigenen Kindern, auf gepackten Koffern? Oder sind sie bereits geflohen, nach Moldau, Rumänien, Polen? Deutschland?
Wer diese Kinder wiedererkennt, soll sich bitte melden bei mir.
Auszug aus meinem Reisetagebuch von damals
Sonntag, 19. Oktober 2008
Die Kinder holen mich ab. Vika hat die Haare zu Zöpfen geflochten und trägt ein grünes Strickkleid mit Wollstrumpfhosen, roten Lackschuhen und einer rosa Strickjacke. Ich komme mir wahnsinnig verantwortlich vor, als ich mit den beiden Kindern zum Zirkus laufe. Es sind ja nur 10 Minuten Weg, aber ich bin total stolz. Wenn wir über eine Straße gehen, halte ich die beiden an den Händen und schaue nach dem Verkehr. Vika plappert viel, sie redet mit Vadik über andere Kinder aus der Schule, ich verstehe aber kaum was.
Bei Vadik war ich übrigens mittlerweile auch schon zu Hause. Er wohnt mit der Mutter in einer Erdgeschosswohnung neben dem Treppenaufgang. Ein einziger Raum, ca. 30qm, altes Fischgrätenparkett, ein sehr breites Stuckband an der Decke. Quer durch das Zimmer sind Wäscheleinen gespannt. Vadik schläft in einem Twinbed an der Wand. Alles wirkt unordentlich. Die Mutter Tanja läuft meist in einer Art Bademantel herum und raucht, ist aber nett. Zumindest freut es sie, dass ich die Kids eingeladen habe.
Schon vor dem Zirkus: die Spielzeugverkäufer. Ich mag den Kids deren Kram aber nicht kaufen, diese Leuchtbändchen und batteriebetriebenen Leuchtschwerter und Propeller und weiß der Kuckuck, getwistete Luftballonfiguren etc. Sie gucken sehnsüchtig. Im Zirkus hat sich seit 2006 nichts verändert, das beruhigt mich. Noch immer die alte Holzbestuhlung, die halsbrecherischen Treppchen zu den Plätzen, der rote Samtvorhang. Derselbe Conferencier mit 70er Jahre Fönwelle auf der Stirn!!
Vor uns sitzt ein Junge, ca. 4 Jahre alt, mit fetten Brillengläsern. Er scheint verhaltensgestört zu sein oder zurückgeblieben oder ein Genie im Werden, das kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls gibt er Vika & Vadik gegenüber gleich an mit seinem Leuchtstab und sonst welchem Krimskrams. Vika tells him to fuck off, er kommt aber immer wieder an, sucht die Freundschaft der größeren Kinder. Später in der Vorstellung schlägt ihn seine Mutter ins Gesicht, weil er sich wieder zu Vika und Vadik umdreht. Sie packt ihn im Genick und dreht seinen Kopf Richtung Manege, rüttelt ihn dabei. Schrecklich, sowas.
Clowns, Akrobaten, eine Nummer mit Riesenpudeln. Ein weiblicher Contortionist, im Silberanzug wie ein Lurch. Vika will sich die ganze Zeit über einen Luftballon krallen, der vor uns an einem leeren Sitz lehnt, aber einem anderen Kind gehört. Als ich sie deswegen auf deutsch „ausschimpfe“, schauen mich die Kids entgeistert an. War das Deutsch?, fragt Vadik..
In der Pause kaufe ich den Kids Popcorn und Sladkaja Wata… Zuckerwatte!! Viel Andrang beim Zuckerwattemädchen, alle schauen gebannt, wie sie den Plastikstab in der Trommel rührt und die Zuckerwatte einfängt, die zarten Gespinste.
Im zweiten Teil kommt noch eine Bärennummer, dann Jongleure, und der Abschluss sind Trapezkünstler, mit wirklich tollen Flug- und Fangnummern. „Molodzi!“, ruft Vika immer wieder und klatscht wie wild, „Molodzi!“. Vadik hat während der zweiten Hälfte der Vorstellung in seiner Hosentasche plötzlich einen 20 Grivna Schein gefunden. Vermutlich hat ihm die Mutter das Geld eingesteckt, damit er sich was kaufen kann. Nun ist die Freude groß, und der Run auf die Spielzeugstände beginnt. Vadik kauft sich eine gelbe Schaumstoffnase, dazu Teufelshörnchen, die rot leuchten, sowie drei fluoreszierende Armreifen. Weil Vika kein Geld dabei hat und die Nasen nur 3 Grivna kosten, sage ich Vadik, er soll ihr auch eine kaufen.
Wir gehen in der Dämmerung nach Hause. Vika möchte noch mehr Zeit mit mir verbringen und ist ganz neidisch, als ich ihr vom Restaurant mit Pommes Frites etc erzähle, in das ich mit Kevin gehen werde. Vadik geht mit zu ihr, ich klingle bei seiner Mutter und sagte: „Wsjo choroscho, wsjo polutschilos, Vadik seitschas u Viki.“ Alles in Ordnung, alles hat geklappt, Vadik ist bei Vika.“
Information zu meinem Odessa-Roman „Die Reise des Guy Nicholas Green“ (2014)
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