Neptuns Möwe | Neptune’s Seagull
Ein Luxushotel ist ein Ort, der die Illusion von Sorglosigkeit für volle Stunden und ganze Tage aufrechterhält.
Im Hotel Neptun in Warnemünde, von schwedischen Architekten geplant und 1971 von schwedischen Arbeitern erbaut, haben alle Gästezimmer Meerblick. Alle können von ihren schräg in die Fassade gesetzten Balkons aus die Ostsee und den breiten Sandstrand sehen. Das war, denke ich, besonders in der DDR-Zeit wichtig.
Egal, ob man als Devisenausländer mit Westmark und schwedischen Kronen bezahlte und in die obersten Etagen einziehen durfte, oder ob man seinen Urlaubsplatz für einen Bruchteil des Geldes über den ostdeutschen Gewerkschaftsbund FDGB gebucht hatte und weiter unten logierte – der Meerblick war allen gewiss.
Für Juni 1978 ergatterten meine Eltern einen solchen Urlaubsplatz. Sagenhafte vierzehn Tage verbrachten wir im Hotel Neptun, dem elegantesten Ferienhotel der DDR.
Meine Erinnerungen an den Aufenthalt sind in zartes Orange getaucht. Ich sehe die weißen Tischdecken und die Rundung der Tanzfläche im Panorama-Café in der 19. Etage. Auf Rollwagen wurden die Speisen gebracht, und vielleicht habe ich dort meinen ersten Apfelsinensaft getrunken oder zumindest gesehen – woher sonst das Orange?
Die Erwachsenen benahmen sich höflich, und bestimmt waren meine Eltern auch ein wenig schüchtern vor all dem westlich wirkenden Luxus, zumindest am Anfang. Ich aber, fünf Jahre alt, kam aus mir heraus. Ich wurde von fremden Menschen freundlich beachtet – ein gänzlich neues Gefühl!
Zum Kindertag am 1. Juni gab es ein Fest, bei dem niemand, wie in meinem Kindergarten in Karl-Marx-Stadt üblich, die Luftballons mit Nadeln zerstach! Ich gewann eine Sieger-Urkunde – wofür, weiß ich nicht mehr, und lief am Abend glücklich meiner Mutter in die Arme.
Wir fuhren jeden Tag Fahrstuhl, und ich drückte die Knöpfe. Wir spielten Minigolf – dass es so etwas gab, hatten wir nicht geahnt. Ich durfte mit zu Veranstaltungen im Hotel: Käpt’n Brass alias Horst Köbbert begeisterte mich, und dann war da diese Sängerin mit „Eine Mark für Charlie“.
Ich stand am Rand und sang mit; ich kannte den Schlager auswendig. Die Sängerin winkte mir zu, doch ich verstand nicht. Nach ihrem Auftritt kam sie zu mir und ging in die Knie, um auf Augenhöhe zu sein: eine wunderschön geschminkte Frau mit kurzen Haaren und einem silbergrauen Glitzerkleid.
»Käpt’n Brass alias Horst Köbbert begeisterte mich, und dann war da diese Sängerin mit „Eine Mark für Charlie“.«
„Warum bist du nicht vorgekommen? Ich hab dir doch gewinkt!“ Ich staunte sie an. „Das nächste Mal kommst du!“ sagte sie, und ich versprach es, obwohl mir der Vorschlag absolut unwirklich vorkam.
Meine Eltern, damals 24 und 31 Jahre jung, gaben sich in diesem Urlaub der Illusion von Sorglosigkeit hin … bis ich eines Tages am Strand verloren ging. Ich wurde stundenlang polizeilich gesucht, fand aber schließlich von selbst wieder zurück, weil ich das Klettergerüst wiederentdeckte, von dem es nicht weit war zu unserem Strandkorb.
Und nun, mehr als vier Jahrzehnte danach, bin ich auf Spurensuche im NEPTUN. Für zwei Tage statt vierzehn, mit meinem Partner statt mit den Eltern. Hilfe bekomme ich wenig. „Es ist nicht gewünscht“, sagt mir die Gästebetreuerin und verzieht unter der Maske bedauernd ihr Gesicht.
Viele fragen nach früher, erfahre ich, viele, die heute kommen, haben Erinnerungen, die sie auffrischen möchten. Doch das Hotel lässt die Vergangenheit ruhen, trotz dass es sehr wohl ein eigenes Archiv mit alten Aufnahmen und Materialien hat.
»Das Hotel lässt die Vergangenheit ruhen, trotz dass es sehr wohl ein eigenes Archiv mit alten Aufnahmen und Materialien hat.«
Möchten der russische Besitzer und die Betreibergesellschaft nicht, dass man das NEPTUN noch mit der DDR in Zusammenhang bringt? Nur das Warnemünder Heimatmuseum hat zum 50. Jubiläum des berühmten Hotels eine Broschüre gedruckt. Die Gästebetreuerin kopiert sie mir und schenkt mir einen kleinen Ansteckbutton mit dem Logo des Hauses.
Oben im Zimmer die Überraschung: eine Möwe landet auf der Balkonbrüstung. Ich trete hinaus und spreche mit ihr; sie bleibt seelenruhig sitzen. Klar, sie spekuliert auf etwas zu fressen. Ich füttere sie mit einer Banane, die ich von der Fahrt übrig habe.
Und plötzlich meine ich zu wissen: diese Möwe mit ihren Plusterfedern und den hellgrünen Augen ist ein Gruß an mich. Ja, ich bin hier gewesen, es ist sehr lange her, doch der Ort weiß noch etwas von mir.
Beat und ich genießen die Zeit. Saunalandschaft, Aqua-Gymnastik, Spazieren am Strand, feines Essen, Pianobar, meine Gedanken an damals ... und für zwei Tage keinerlei Sorgen.
Broschüre des Heimatmuseums Warnemünde mit historischen Fotos und Informationen zum Hotel:
https://heimatmuseum-warnemuende.de/wp-content/uploads/2022/01/Brosch-SA-Neptun-50.pdf
Blog article in English:
Neptun's Seagull
A luxury hotel is a place of illusory insouciance—it lets you forget all your troubles for full hours and entire days at a time.
At Hotel NEPTUN in Warnemünde, designed by Swedish architects and built by Swedish construction workers in 1971, all guest rooms have ocean views. Everyone can see the Baltic Sea and the wide sandy beach from their balconies. I think this was especially important during the GDR era.
Whether you were a foreigner paying with West Marks or Swedish Krona and residing on the top floors of the hotel, or whether you had booked your trip for a fraction of that money through the East German trade unions, earning you a room on the lower levels—the ocean view was guaranteed to each and all.
In June 1978, my parents landed such a dream vacation. We spent a fabulous fourteen days at Hotel NEPTUN, the GDR’s most elegant resort hotel.
My memories of our stay are slightly orange-colored. I can see the white tablecloths and the curving dance floor in the Panorama Café on the 19th floor. The food was wheeled in on trolleys, and perhaps I drank or at least saw my first glass of orange juice there—where else would the orange color come from?
The adults behaved very well, and I guess my parents were even a little shy at first, what with all the Western-looking luxuries around. But I, five years old, came out of my shell. Complete strangers gave me attention and were friendly towards me—that feeling was totally new!
On June 1st, Children’s Day, there was a wonderful party where no one, as was customary in my kindergarten in Karl-Marx-Stadt, popped the balloons with the help of sharp pins. I won a winner's certificate—I don't remember what for, and ran happily into my mother's arms in the evening.
Every day, we rode the elevators, and I pushed the buttons. We played miniature golf—we’d had no idea such things existed. I was allowed to attend the shows at the hotel: Captain Brass alias Horst Köbbert delighted me, and then there was a lady singing „Eine Mark für Charlie“ (One Mark for Charlie).
I stood watching her and singing along; I knew the hit by heart. The singer waved at me, but I didn't understand. After her performance, she came up to me and squatted to be at eye level: a beautifully made-up woman with short hair and a sparkling, silver-gray gown.
"Why didn't you join me on stage? I was waving at you." I marveled at her. "Next time you'll come up", she made me promise, although the proposal seemed perfectly unreal to me.
My parents, then only 24 and 31 years of age, indulged in the illusion of insouciance during their holiday ... until one day on the beach, I got lost. Police searched for me for hours, but I ended up finding my way back all by myself—I happened upon the little playground with the climbing frame that stood close to our strandkorb.
And now, more than four decades later, I am searching for traces at NEPTUN. I have two days instead of fourteen, and I am here with my partner instead of my parents. I get little help. "It's not wanted," the employee at guest services tells me, making a regretful face under her mask.
Many people inquire about the NEPTUNE’s history, I learn from her, many of today’s guests hold memories they’d like to refresh. But the hotel lets the past be the past, despite the fact that it has its own archive with old photographs and more.
Do the Russian owner and the managing corporation not want the NEPTUN to still be associated with GDR times? Only the Warnemünde Museum of Local History has published a brochure on the 50th anniversary of the hotel in 2021. The employee copies it for me and gives me a NEPTUN pin button to make up for my disappointment.
Upstairs in the room comes a surprise: a seagull lands on our balcony railing. I step outside and talk to her; she sits calmly. Of course, she wants something to eat. I feed her a banana I have left over from the drive.
And then I suddenly seem to know: this seagull with her immaculate feathers and bright green eyes has come to greet me. Yes, I was here, it was a long time ago, but the place still remembers somehow.
Beat and I enjoy our stay. Sauna, aqua gym, strolling on the beach, fine dining, piano bar, my memories of way back ... and no worries at all for two days.