Meine Erinnerung an Odessa beginnt in einem alten Haus, auf einer Treppe. Ich sehe die Stufen vor mir: das Gebiss eines ausgestorbenen Wesens. Die Lilien im Geländer sind vom Grünspan zerfressen. Von den Wänden schuppen die Reste eines hundertjährigen Anstrichs, und der Fahrstuhlkäfig, elegant geschmiedet und stark verrostet, beschützt eine Kabine, mit der niemand mehr reist. Das Foyer riecht nach Moder, und natürlich ist es dort nie richtig hell geworden. Jedenfalls nicht in den Sommerwochen, die ich Mitte der Nullerjahre in Odessa verbrachte und von denen man sagen kann, dass sie mich wundersam abbrachten von meinem Weg. Die Treppe war für mich damals ein Bild meiner Seele. Auch äußerlich machte ich nicht mehr viel her: fast Mitte vierzig, die blonden Schläfen ergraut, Tränensäcke unter den Augen, ein bitterer Zug um den Mund und ein Adamsapfel, der langsam spitzer wurde unter dem Fleisch.
Die Treppe war aus Marmor, so viel erkannte man noch. Ich stellte mir vor, wie einst Dienstmädchen mit Reisigbesen ihre weißen Adern gefegt hatten. Oder dass sie mit türkischen Teppichen bespannt war, in denen Paradiesvögel sangen, während die Leute im Fahrstuhl mit dem Liftboy plauderten, der die Messinghebel bediente und den prächtigsten Schnurrbart der Stadt hatte. Zur Revolution und in den Folgekriegen war die Treppe unter Soldatenstiefeln erzittert und in den langen Jahrzehnten des Kommunismus sehr müde geworden, bis sie schließlich in sich zusammensank. Sie war ein Ort, an dem ich Frieden empfand. Zumindest redete ich mir das ein. Langsam die zerrütteten Stufen hochsteigend, das Schaben meiner Sandalensohlen in den Ohren, suggerierte ich mir, wie ich einverstanden wurde mit meiner Situation: Ich musste in Odessa ausharren, bis Mutter mir Geld schickte. Von dem Geld würde ich nach Indien fahren, um mein Ego auf den Müll zu schmeißen. Und ich würde nie wieder arbeiten.
Nahe der Wand, wo niemand ging, hatten die Stufen noch Kanten. Taubenmist klebte auf ihnen fest. Zur Mitte hin flachten sie ab, wurden wellig. Es gab Spalten, Brüche, Löcher, in denen Mäuse wohnten. Zum Geländer hin verschmolzen die Reste zu einer gelblichen Zunge, auf der man leicht ausrutschen konnte. Manchmal zog ich, mein Selbstmitleid zelebrierend, im Foyer des Gebäudes die Sandalen aus und ging barfuß nach oben, das alte Stufengebiss mit nackten Sohlen erkundend. Im Rücken spürte ich noch das Flirren der Sonnenbrillen von draußen und die Silhouette der kleinen Kellnerin, die den Businessmen im Café vor dem Haus zu ihren schmierigen Verhandlungen Espresso servierte. Die Fußgängerzone, an der das Haus lag, hieß Deribasov Street. Sie war die Flaniermeile im Herzen der Altstadt, wie man so etwas in der Tourismussprache gern nennt, kopfsteingepflastert und kyrillisch beschriftet, gesäumt von Linden und den Markisen der Geschäfte und Restaurants. Manche Gebäude glänzten protzig und neu, doch das meiste war Klassizismus und Jugendstil, verwittert und mit Reklame beklebt. Viele Fassaden schliefen unter Planen versteckt. Ein Versprechen von Auferstehung lag in der Luft, als ob die Stadt wieder zu werden hoffte, was sie vorgab, einst gewesen zu sein: eine Diva am Schwarzen Meer.
Anfang Juli wurde ich an ihre Ufer gespült. Genauer gesagt kam ich auf Rädern, in einer moldawischen Marschrutka. London–Chişinău, zwei Tage in einem voll besetzten Eurolines-Bus, steckten mir schon in den Knochen. Ich hoffte auf eine billige Schiffsverbindung in die Türkei, vor allem aber auf ein Einsehen meiner Mutter, was das Geld anging. Die Steppenödnis, durch die wir fuhren, deprimierte mich. Ich zog die Gardine an meinem Fenster zu, bis durch ihren verschlissenen Stoff, als ferne Ballung im Staub, Odessa auftauchte, in Gestalt einer Hochhaussiedlung zunächst, wie ich sie auch an den Rändern von rumänischen und moldawischen Städten gesehen hatte. Ich zog die Gardine auf. Ich wusste nichts über die Stadt, doch der Name gefiel mir. Er klang nach einer Erinnerung, die unmöglich meine eigene sein konnte und doch vertraut schien.
Am Busbahnhof bot mir eine Gruppe von Großmütterchen Zimmer an. Sie reckten mir laminierte Fotos unter die Nase, zupften an meinem T-Shirt, schmeichelten mir mit Zischlauten und gurrenden Silben. Ich war fast doppelt so groß wie sie. Sie hatten vergoldete Schneidezähne, ein Zeichen früheren Wohlstands vielleicht, und Barthaare am Kinn. Die Zimmer schienen tatsächlich sehr günstig, manche sogar mit Verpflegung, doch die Barmherzigkeit der Babuschkas ging bestimmt nicht so weit, sie mir kostenlos anzubieten
Ich schulterte meinen Rucksack, lief los, die erstbeste Allee hinunter. In der Hand hielt ich den Ausdruck mit der Wegskizze zum Hostel. »Top-Location in Odessas historischer Altstadt! Dein Zuhause fernab der Heimat in diesen Zeiten romantischen Strebens!« Das stand unter der Skizze. Ich hatte die Beschreibung nur überflogen und das romantische Streben als Übersetzungsfehler verbucht.
An der Oper, einem imposanten Barockensemble mit Bauzaun, döste ein Hunderudel. Ich bog links ab in die Deribasov Street. Die Sonne wärmte die Pflastersteine, die Linden fächelten mit ihren Blättern, und was mir gleich auffiel, obwohl durch die Mittagszeit bedingt nicht viel los war, das waren die jungen Frauen. Sie gingen, als trügen sie ihren Stolz in unsichtbaren Vasen auf den Köpfen spazieren. Sie wiegten sich nicht in den Hüften wie Afrikanerinnen, hatten streng genommen gar keine Hüften im Vergleich zum südlich der Sahara verehrten Ideal, doch ihre Füße bogen sich in den High Heels wie Gazellenhörner. Sie flanierten mit Tempo über das bucklige Pflaster, Handy am Ohr, Shoppingtüten im Arm, und zeigten mehr Haut, als mit dem Wetter allein zu begründen war. Sie gaben sich unnahbar vor dem Spalier der Cafés und Restaurants, die Augen von Sonnenbrillen geschützt, und obwohl sie mich im Vorbeilaufen registriert haben mussten, schenkten sie mir keinen Blick.
Ich schluckte meine Enttäuschung, suchte das Hostel. Das Gebäude, in dem es sich befand, wirkte düster. Ein Riss lief durch die Fassade, vielleicht von einem Erdbeben. Im Sandstein des Torbogens machte ich eine Jahreszahl aus: 1900, jede Ziffer von feinen Löchern durchsiebt. In der Einfahrt lehnte ein Torflügel, dem ich das Alter zutraute. Er war komplett durchgerostet, stand an der Mauer wie ein vergessenes Museumsstück. Tiefer in der Einfahrt fand ich ein kleines Schild. Black Sea Hostel. Ich drückte die Haustür auf, stieg über die Schwelle und konnte einen Moment lang nichts sehen.
Kühle umfing mich. Uringeruch kroch mir entgegen. An der Wand des Foyers löste sich eine Batterie verwahrloster Briefkästen aus dem Dunkel, ein Gruß aus einer Zeit, in der die Menschen einander noch auf Papier schrieben. Geradeaus tauchte die Treppe auf. Ein Tourist hätte sie fotografiert. Ich aber hielt mich am Geländer fest, denn ihr Anblick machte mich elend. Diese Stufen, Ergebnis jüngeren osteuropäischen Verfalls, waren weder mit Moos bewachsen noch führten sie zu versteckten Kammern. Trotzdem bescherten sie mir ein Déjà-vu. Sie ähnelten den geheimen Tempeltreppen der Maya, die man in den Pyramiden von Guatemala, Honduras, Südmexiko findet. In Palenque, Mexiko, hatte ich zuletzt gearbeitet. Nicht als Archäologe in den Dschungelruinen, sondern als Projektleiter einer NGO, die den verarmten Nachfahren der Tempelbauer zu helfen versuchte. Dabei war mir passiert, was mich den Job kostete und mich auf meine Reise schickte. Es war noch keinen Monat her, eine verdammt frische Wunde, und ich hätte niemals erwartet, hundert Meridiane östlich, auf einem anderen Erdteil, wieder darauf gestoßen zu werden. In der ersten Stunde vor Ort.