Leseprobe „Die rote Herzogin“

Kapitel 1

 

Josef Wissarionowitsch Stalin schwärmte für Wasserkraft. „Der Hydraulikmuskel der sowjetischen Industrie“, kritzelte er in sein Notizheft. Er bestellte den Mechaniker Katz und die besten Ingenieure Moskaus in sein Arbeitszimmer. Drei Mal sickerte das Wort „Zaporoschje“ durch seinen grau gesprenkelten Schnauzbart.

„Aber wir haben weder die Technologie noch geeignete Arbeitskräfte, um den Dnjepr-Staudamm zu bauen“, flehten die besten Ingenieure im Chor, während ihre Blicke von ihren Schuhspitzen hoch zum Leninbild huschten, das genau über Häuptling Stalins Kopf hing.

„Und was denken Sie, Genosse Katz?“ Josef Wissarionowitsch wandte sich an den Hauptmechaniker der Schießpulverfabrik, den ruhmreichen Revolutionär Chaim Katz. 

Von allen Bolschewiken hatte dieser Katz den flammendsten Beitrag zur Abschaffung der alten Verhältnisse geleistet. Er hatte den Sprengstoffschmuggel für die Barrikadenkämpfe und für die Belagerung des Zarenpalastes organisiert.

„Ich bin nur ein einfacher Heizer“, sprach Katz, „und kenne mich mit Wasserkraft nicht aus. Aber ich weiß, dass unsere sowjetischen Arbeiter die besten der Welt sind. Sie sind es, die den Damm errichten müssen.“

„Sssehr gut, Genosse Katz“, sagte der Chef und zündete seine Pfeife an. „So ssoll es sein.“

Die besten Ingenieure Russlands wagten nicht, einander anzuschauen.

„Und wer ist der besste Staudamm-Ingenieur der Welt?“, fragte Stalin.

„Ein A-m-merikaner namens Hugh Winter“, antwortete der einstige Graf Alexandrow, Wirtschaftsminister unter dem letzten Zaren, und versuchte, dabei nicht zu stottern.

„Du ssagst es. Wir werden diesen Winter zu uns hertreideln, über den großen Ozean. Und ihr, ssogenannte Ingenieure, unfähige Schmeichler und Arschkriecher, kommt unter sein Kommando. Katz – du wirst Bauleiter. Pack deine Sachen, und wenn alles fertig ist, komme ich persönlich und schaue mir den Damm an.“

Chaim Katz wurde blass, und das erste graue Haar erglomm an seiner Schläfe.

„Ergebensten Dank, Genosse Stalin, für Ihr kommunistisches Vertrauen in mich“, sagte er.

Die Ingenieure, die stocksteif an der Wand lehnten, klopften in Gedanken auf das Eichenholz der Paneele. Wie das Schicksal so spielte! Zufällig, unberechenbar … Diesen Katz wären sie los. Falls bei dem Projekt einer den Kopf verlieren würde, dann war es dieser Emporkömmling.

„Übrigens, Katz“, ergänzte der Chef und erhob sich vom Schreibtisch: „Vergiss nicht, dein fesches Frauchen mitzunehmen. Es wird höchste Zeit, dass sie ihrer neu erstandenen Heimat nützlich wird.“ Josef Wissarionowitsch Stalin lächelte mit all seinen pockigen Furchen und beendete die Besprechung.

Nur noch Stunden sind es, bis die Schienenstränge sich treffen, bereit zum Transport endloser Schotterwaggons für den größten Wasserfresser im Arbeiterstaat. Glänzend und stramm rattern die Muskelgetriebe. In den zifferblättrigen Brustkästen klicken die Knochenrädchen. In Hämmer mündende Männerarme rotieren wild um die Schulterachsen, schlagen im Sekundentakt Bolzen in die eiserne Trasse. Aus den Steinbrüchen spritzen Schotterfontänen zum Himmel. Arbeitermienen erstarren in frenetischem Grinsen.

Frauen kneten den Beton mit ihren Füßen. Aus der myopischen Sonne fahren Stahleimer auf sie herab, schöpfen den grauen Brei, heben ihn auf Septemberstrahlen empor und schaukeln ihn durch die Luft, bis sie ihn wieder ausspeien über riesigen Schalungen für Fundamente, Überläufe und Pfeiler. Zwei-, dreimal pro Schicht trägt man einen Arbeiter fort, von Kopf bis Fuß bedeckt mit einem Sack, der Brustkorb zerquetscht von einem Granitblock. Alle zwei Wochen taucht ein ertrunkener Vermesser im Fluss auf. Über Verschwundene munkelt man, dass sie von einem Betonschwall erfasst wurden und nun auf ewig begraben liegen im Damm.

Entlang der Ufer stehen Eichen, wacklige Weiden, tröpfelnde Linden, die längst den Überblick verloren haben über all die Eroberer der Steppe ringsum: Weiße Armee oder Rote, linke Sozialisten, Machno-Banden oder Partisanen. Nur das winzige, wenn auch unangenehme Weilchen von fünf Jahresringen hat der Bürgerkrieg gedauert. Das langsam wachsende Holz bezeugt noch kaum, dass er vorbei ist und die politische Macht nun vorerst unwiderruflich den Bolschewiken gehört. Zur Herbst-Tagundnachtgleiche des Jahres 1929 bestechen die Bäume die Flussufer mit ihrem Goldlaub, wie um sich freizukaufen von allen Blutbädern der Zukunft.

Dem Bürgerkrieg ist auf dem Fuße ein Bauboom gefolgt. Das zerfetzte Land wird mit Stromkabeln wieder zusammengeflickt, mit Stahl zusammengeschweißt, mit Beton geknebelt. Zaporoschje liegt genau in der Mitte zwischen der Hauptstadt Moskau und Odessa am Schwarzen Meer. Die zwei Arschbacken der Stadt werden vom wilden Dnjepr geteilt. Dieses Kaff hat nun plötzlich Hoffnung, zur drittgrößten Stadt des neuen Reiches zu werden.

Aus: „Die rote Herzogin“ von S. Lavochkina; aus dem Englischen von D. Feuerbach © 2022 Voland & Quist.