Kurzgeschichte

Mondlicht in Vermont – Vom Tod einer Story

 

Als ich Goldie traf, mochte ich sie sofort. Aus ihr sollte eine Geschichte werden. Das Mädchen, der Song und die alte Postkarte, die mir ein Freund geschenkt hatte. Obwohl ich zugeben muss: der Song kam zuerst. Er lief Schleife in meinem Kopf, ich bekam ihn nicht los. Da wurde vom Mondlicht berichtet, von der summenden Telegrafenleitung am Highway, von Münzen, die man am Bach verliert. Ella Fitzgerald hat ihn mit ihrer Stimme verzaubert, Louis Armstrong brummelte ihn meisterhaft, und auch die Version von Frank Sinatra schien mir geeignet, um der Geschichte den gewissen Anstrich zu geben. Eine Patina sollte es sein, mal schimmernd wie die Tasten eines Klaviers, mal ins Schilfgrüne spielend wie die Zigarren, die Goldies Vater gern raucht.

So war der Plan. Bis ich Frau Wiki Pedia fragte. Ich wollte sichergehen, dass das alles so stimmt. Sie sagte mir, Moonlight in Vermont, ein amerikanischer Jazzstandard, sei 1910 noch gar nicht geschrieben gewesen. Er wurde Jahrzehnte später komponiert und hat deshalb mit meiner Goldie nicht das Geringste zu tun. Ich war geknickt. Bis ich beschloss, die Musik trotzdem zu verwenden in der Geschichte. Ich konnte einfach nicht anders. Goldie stand vor mir, am Bahnhof von Montpelier. Es war das Montpelier mit einem „l“, in Vermont. Goldie trug ihren blauen Samthut mit Krempe. Sie war siebzehn, es wurde dunkel, und sie hatte große Lust zu verreisen.

Montpelier war zwar schon damals die Hauptstadt Vermonts, doch weil dort alles so klein und ländlich ist, stellte ich mir den Bahnhof als bessere Scheune vor. In der Ferne schnaubte eine Lok. In der behandschuhten Hand hielt Goldie das Ticket zu ihrer Geschichte: ein Billett so zierlich wie ihre Taille, bedruckt mit dem Symbol der Eisenbahngesellschaft.

Wohin würde sie fahren? Ich hatte überhaupt keine Ahnung. Der  Mondlicht-Song, den ich verwenden wollte, schweigt über Teenager, die ausreißen von daheim. Er erzählt von einsamen Spuren im Schnee und vom Mond, soviel ahnte man schon. Ein ruhiger Viervierteltakt; die Melodie setzt halbhoch an und schlendert abwärts in die Gefilde der Nostalgie. Eins war mir klar: es musste eine Nachtreise sein, und sie musste weit weg führen von der Farm, auf der Goldie bis dahin gelebt hatte mit ihren Eltern und den frustrierten Schwestern, die keinen Ehemann finden. Der Zug hielt, sie stieg ein, und wir spürten beide: sie will nach Montreal. Über die Grenze. Nach Kanada. In eine richtige Stadt. Wo niemand sie kennt.

Das Abteil, ich erinnere mich, war mit rotem Plüsch ausgekleidet und mit Büffelleder gepolstert. Die Schirme der Gaslämpchen schaukelten im Rhythmus der Schienen. Es roch nach dem Rasierwasser des schwarzen Waggonkellners. Goldie setzte sich in einen freien Sessel und ließ sich ein Kaschmir-Plaid bringen für ihre Beine. Die Rüschen ihrer Jungmädchenbluse kringelten sich wie die Löckchen in ihrem Nacken. Sie war ein bisschen blass um die Nase; das kam von der Aufregung. Das erste Mal fort von daheim! Ob sie zu Hause schon was gemerkt hatten?

Die Reisenden im Waggon plauderten auf Französisch. Der Kellner servierte Champagner, und durch die eleganten Raffrollos des Waggons schien der Mond. Zumindest auf der einen Seite vom Zug. Kein Vollmond, sondern eine Sichel, die erst richtig zur Geltung kam, als ich Goldie allein ließ für einen Moment und mir die Sache von außen anschaute: wie der Mond hell über dem Bergrücken stand, wie sich der Zug unten im waldigen Tal in die Kurve schmiegte und seine Flanke silberblau wurde im Licht, wie aus dem Schornstein der Rauchschleier wirbelte und die Lokomotive sehnsüchtig pfiff.

Eine gelungene Szene. Meine Anspielung auf den verbotenen Song war so subtil, dass sie keinem Aas auffallen würde. Goldie merkte auch nichts. Aus ihrer Handtasche zog sie die Postkarte, die ich dort hineingelegt hatte. Die Vorderseite zeigt die colorierte Fotografie eines nächtlichen Flusses, über den eine Eisenbahnbrücke führt, auf der gerade ein Zug fährt, dessen Flanke vom Mondlicht versilbert wird. Alles stilecht, eine Miniatur der Fluchtszene. Goldie legte die Karte mit der Bildseite nach unten auf den kleinen Tisch, den ihr der Kellner aufgeklappt hatte. In der Handfläche prüfte sie die Mine ihres Crayons.

„Mr. C. J. Hawes, Montpelier, Vermont“, schrieb sie ins Adressfeld, über dem schon eine grüne Briefmarke klebte mit dem Profil von George Washington. Und nun? „Dear Mama and Papa…“ Goldies Zungenspitze tastete sich an der Innenseite ihrer Schneidezähne entlang. Was sollte sie den Eltern schreiben? Es durfte nichts Beunruhigendes sein und nichts allzu Persönliches. Nur ein Zeichen, dass es ihr gut ging. „I am having a fine time and I am not sick on the train at all.“ So begann sie, jeden Buchstaben mit Schleifchen verzierend. „I ate my sandwich and also got some tea.“ Das stimmte nicht ganz; es war Champagner gewesen und ihre Sommersprossen glühten davon. „I am not lonesome. The young gentleman by my side is a swell companion.“

Damit war die Karte voll. Ich staunte. Was brockte sie sich da ein? Wollte sie das wirklich abschicken? Ein Gentleman war nicht vorgesehen in der Geschichte. Jedenfalls nicht vor Montreal. Oder doch? Wer saß noch im nächtlichen Abteil Richtung Norden? Meinte Goldie etwa den Schnarcher mit Backenbart, dessen Weste aufsperrte, weil sein Roastbeef Dinner zu üppig gewesen war? Oder den Kellner? Ich schaute sie aufmerksam an. Sie spielte mit dem Bleistift, ohne meinen Blick zu erwidern. Ich instruierte sie, den Kartentext mit dem Radiergummi-Ende ihres Crayons zu löschen, und zwar sorgfältig, damit man unter den neuen Worten, die ich ihr diktieren würde, keine Spur von den alten mehr fand.

„Du bist erst siebzehn“, erklärte ich ihr, „und zu deiner Zeit ging es noch nicht so locker zu wie zu meiner. Deine Eltern werden glauben, du wurdest entführt, und das heißt: sie kommen dich suchen.“

Sie machte einen Schmollmund, wie sie ihn von Kinoplakaten kannte. Dann passierte etwas Verrücktes. Sie zerriss die Postkarte und warf mir die Schnipsel hin. Als wäre ich die Letzte, die ihr etwas zu sagen hat. „Bist du wahnsinnig!“ rief ich. „Diese Karte ist älter als hundert Jahre und sehr wertvoll! Ein Freund hat sie mir mitgebracht aus Vermont, damit ich diese Geschichte erfinde. Weißt du denn nicht, dass du nur durch mich existierst?“

Goldie wurde trotzig, und als ich weiterschimpfte, fing sie zu weinen an. Doch es war nicht aus Reue, das konnte ich sehen. Sie schauspielerte mir etwas vor. Wie die Hollywood-Stars, Mary Pickford und so, die sie samstags abends in einem zum Nickelodeon umfunktionierten Kuhstall anschwärmte, obwohl sie noch keinen Ton sagten. Doch ich habe auch meine Mittel. Schließlich waren wir nicht in jenem erst viel später gedrehten Woody-Allan-Film, wo der Held aus der Leinwand springt und seine Geschichte selbst in die Hand nimmt.

Ich zog die Notbremse. Oder anders gesagt: ich ließ den Pullman-Waggon erster Klasse davonrattern in der Nacht. Ohne die Heroine. Licht ging an. Kein Mondlicht, sondern die fahle Deckenröhre in meinem Keller für gestorbene Stories. Vor der nackten Wand wirkte Goldie plötzlich seltsam verkleidet in ihrem Kostüm von 1910. Doch sie ergab sich nicht in ihr Schicksal. Sie war cleverer, als ich dachte. Sie schaffte es, jemanden auf ihre Seite zu ziehen, vor dem ich mich fürchte.

„Hey, was tun Sie denn da?“ beschwerte sich der allwissende Literaturkritiker, der mich grundsätzlich siezt und sich gern als Figurenbeschützer aufspielt. „Das Mädel hat was Besseres verdient, als von Ihnen in den Keller gesperrt zu werden!“

Aus seiner Wohnung hörte ich Klaviermusik klimpern, die mir bekannt vorkam. Ruhiger Viervierteltak, die Melodie setzt halbhoch an und schlendert von dort ... Der Allwissende sprach weiter. „Geben Sie Ihrer Goldie, was sie sich wünscht! Sie wissen schon: das, wovon alle Teenager träumen. Oder wollen Sie etwa warten bis 1944? Wenn das Mondlichtlied, dessen Zeilen von Liebe und Glück Ihnen bis jetzt offensichtlich entgangen sind, zum ersten Mal im amerikanischen Radio läuft, sitzt die Ärmste doch längst als Großmutter vor dem Gerät! Dann ist der Zug fort, in dem in jeder Kurve ein Abenteuer wartet.“

Ich ärgerte mich über die Einmischung. Und war überrascht. Der unübertroffene Kenner der Literaturen hatte sich mir gegenüber noch nie als Fan von Liebesgeschichten geoutet. Wenistens nicht von solchen, wo die Liebe länger als eine Nacht gut geht. Aber er hatte den Song gehört und sich an jener Stelle verhakt, wo es heißt, dass man wie hypnotisiert sein kann, wenn einem in Vermont jemand begegnet. Nun wollte er, dass ich Goldie hypnotisiere, anstatt sie im Keller eingehen zu lassen.

Ich wusste nicht recht. Konnte ich das schaffen? Wollte ich es? Ich bin nie in Vermont gewesen; die Bekanntschaft mit Goldie war flüchtig. Eine alte Postkarte, mehr hielt ich nicht in der Hand. In Wahrheit interessierte mich ein anderer Frauentyp. Eine Lena oder Luisa, die hundert Jahre später als Goldie jung ist und in Mitteleuropa lebt, wo ich weniger recherchieren muss. In einer Stadt, die ich nicht nenne, in einer Küche, die ich nicht beschreibe, rührt diese Gesichtslose im Schaum ihres Milchkaffees. Es folgt eine längere Pause. Später raucht sie, die vielleicht etwas studiert an der Uni, eine Selbstgedrehte und guckt den Regentropfen am Fenster beim Ablaufen zu. Sie hat Schluss gemacht mit ihrem Freund, doch der Freund kommt nicht vor.

Ich mochte diese Idee. Das Ergebnis wäre keine Geschichte, sondern ein Text. Anstrichlos, risikolos, makellos. Eine Ausreißerin mit Musik könnte da unmöglich mithalten, egal aus welchem Zeitalter. Doch der Allwissende hatte sich bezirzen lassen von Goldie, und er würde erst Ruhe geben, wenn ich seinen Appetit nach einer Lovestory stillte.

Ich begann also noch einmal von vorn. Ich verlegte die Handlung in den Winter, als vor lauter Frost in Vermont keine Züge mehr fuhren. Schon gar nicht solche nach Kanada. Niemande traut sich auszubüchsen, denn er hätte sofort eine Lungenentzündung riskiert. Bei eisblauem Himmel und Pulverschnee schicke ich Goldie in den Wald. Sie stapft tapfer voran – froh, dass ich ihr diese zweite Chance gebe. Sie trägt jetzt eine Bärenfelljacke mit Pelzmütze und an den Füßen geflochtene Schneeschuhe, mit Robbenhäuten bespannt. Zwei Stunden marschiert sie von der Farm ihrer Eltern bis zum See, der von Ahornbäumen und Zedern gesäumt ist. Sie soll ihren Vater beim Eisfischen ablösen, damit der die Kaninchenfallen im Wald kontrollieren kann. Danach wollen sie in der kleinen Hütte am Ufer eine Kasserole mit Bohnen und Wildschweinspeck essen.

Wie gesagt: es ist kalt. Jeder Tropfen an der Nase gefriert, wenn man ihn nicht rechtzeitig abwischt. Angekommen am Eisloch im See, hockt sich Goldie auf den vom Vater frei gegebenen Holzstumpf und wickelt sich die Wolldecke um die Knie. Sie beobachtet das Weidenzweiglein, an dem die Angelschnur hängt, lauscht dem Glucksen der Tiefe. Ihr ist langweilig, doch sie beschwert sich nicht. Ihre Fausthandschuhe sind mit Reif überzogen, der Atem wölkt vor den Lippen, und neben ihr auf dem Eis klappt der gelbbäuchige Barsch, den der Vater gefangen hat, zum letzten Mal mit den Kiemen.

In dieser Stille fängt das Eis an zu singen. Keine Melodie, die man erkennt, sondern ein Geräusch ... als hätte jemand einen Stein über das Eis schlittern lassen oder einen Holzknüppel. Es kommt näher. Das muss ein großer Stein gewesen sein. Man hört jetzt auch ein Knattern und Spucken. Nein! Ein Automobil? In dieser Einöde? Goldie beschirmt ihre Augen mit dem Fäustling. Da! Ein dunkler Punkt, schon fast in der Mitte des Sees. Er bewegt sich im Zickzack, schlägt Haken über das Eis. Vielleicht weiß er noch nicht, wohin er will. Ein Schwarm Wildgänse steigt flügelrauschend aus dem Schilf. Die Vögel haben es mit der Angst bekommen. Goldie bleibt sitzen auf ihrem Holzstumpf, obwohl auch ihr das Herz flattert. Sie erkennt das Auto. Der Bürgermeister von Montpelier fährt das gleiche, ein schwarzer Ford Model T. Andere Farben gibt es noch nicht in der Automobilproduktion. Die messinggeränderten Scheinwerfer blinken im Dunst, der sich gesammelt hat über dem See. Der Motor spuckt immer abscheulicher. Ist der Fahrer all right? Goldie will vor Schiss ohnmächtig werden, doch ich erlaube es nicht.

Kurz vor dem Eisloch verreckt die Karre. Unter der Falthaube zischt es böse. Goldie packt das Messer, mit dem sie eigentlich den Barsch abschuppen soll. Die Autotür klappt auf, und heraus klettert ein junger Mann. Er ist wirklich noch jung, trägt eine weiße Sportmütze. Keinesfalls stammt er aus der Gegend. Seine Sommersprossen hat der Winter zu zarten Sprengseln gebleicht.

„Hey, Kumpel“, ruft er, „ist es noch weit bis Montreal?“

Goldie kapiert: das ist ihr Ticket. Sie kann ausreißen. Jetzt gleich. Ohne Lungenentzündung. Falls der Motor durchhält.

„Na los“, sage ich, „steig ein, eh dein Alter aufkreuzt. Brauchst auch keine Postkarte schreiben.“

Doch vor Scham darüber, dass sie der fesche Fahrer für männlich hält in ihren Fellklamotten, zögert Goldie. Am liebsten würde sie wohl in die Haut des toten Barsches schlüpfen. Sie fleht mich an, ihren Vater doch kommen zu lassen, sicherheitshalber. Er soll kein Hobbyjäger mehr sein, sondern ein furchterregender Trapper mit Eiszapfen im Bart, der acht tote Kaninchen über der Schulter trägt. Wir spüren beide: sie ist nicht mutig genug für die Reise. Sie ist erst siebzehn und keinen Tag älter, und sie hasst ihr Leben in der Provinz gar nicht so sehr, wie sie gehofft hat.

Ich bringe die Geschichte trotzdem zu Ende. Und zwar so, dass sich niemand beschwert. Ich lasse einen Schneesturm aufziehen. Goldie und Matt, so der Name des Jungen, flüchten zu Fuß übers Eis, bis zur Hütte am Ufer, wo ich schon Feuer gemacht und Pfefferminztee gekocht habe. Matt merkt schnell, dass Goldie ein Mädchen ist. Für den Vater, der draußen im Schneesturm umherirrt, lasse ich mir auch etwas einfallen. Ich halte ihn fern von der Hütte. Wenigstens so lange, bis der Mond aufgeht und wieder verblasst.

„Mondlicht in Vermont – Vom Tod einer Story“ © Diana Feuerbach