Leseprobe „Puschkins Erben“

Prolog: Ein kleiner Türkis geht verloren

 

Aus vollem Halse gähnend, öffnete der russische Dichter Alexander Puschkin mit seinen manikürten Fingern, an denen die Ringe leise klimperten, den schweren Brokatvorhang. Seine weißen Seidenhosen aus Paris, der Mode letzter Schrei, und die rote Rubaschka – ein Bauernhemd aus grobem Leinen, passend zu seinem derzeitigen Rang als Rebell – waren schmutzig und verknittert von der bereits eine Woche währenden Reise. Es war der Tag der Sommersonnenwende.

„Diese verdammte ukrainische Sonne wagt es, mich schon im Morgengrauen zu blenden“, sagte Puschkin, wie immer mürrisch beim Aufwachen.

„Das kommt davon, dass es Eurer Exzellenz gefallen hat, wieder bis zum Mittag zu schlafen“, murmelte der alte Leibeigene Nikita auf der gegenüberliegenden Sitzbank der Kutsche in seinen Bart.

Seine Majestät Alexander I. war gnädiger gewesen, als man es erwarten durfte von einem Monarchen: Er hatte sich dazu herabgelassen, das Flehen seines Reichshistoriografen Karamsin zu erhören und Puschkin ans Schwarze Meer zu verbannen, ins warme Odessa. Der junge Lackaffe hatte für seine boshaften Epigramme über hochrangige Hofleute und sogar den Zaren selbst eigentlich Sibirien verdient.

„Das Schwarze Meer wird ihm die Gockellaunen austreiben und ihn weit fortspülen von Sankt Petersburg und den Gezeiten der Geschichte“, sprach der Reichshistoriograf. „Es ist unsere Pflicht, das Teufelsblut in seinen Adern in die richtige Bahn zu lenken – immerhin war sein Urgroßvater der Lieblingsmohr von Zar Peter dem Großen.“

Der Historiograf, in der russischen Tabelle der Ränge zur Rangklasse drei zählend, verneigte sich über Gebühr bis zur Erde, als wäre er von dreimal niedrigerem Rang, um seinem Gesuch Nachdruck zu verleihen. Es stimmte, dass Puschkin auch ihn, den liebevollen Mentor, nicht verschont hatte. Das Epigramm Dein sirupsüßes Ziegenmeckern ist Tyrannenlob schmerzte noch wie eine frisch empfangene Wunde. Trotzdem war Karamsin ein gütiger, ehrenwerter Mann, klug genug, seinen Einfluss bei Hofe darauf zu verwenden, Puschkin nicht in der tödlichen sibirischen Kälte krepieren zu lassen. Er wusste seit Langem, dass das Talent seines Zöglings sein eigenes weit übertraf und dass seine einzige Chance auf einen Platz in der Geschichte darin bestand, sich zum Retter und Wohltäter des künftigen Shakespeares der russischen Literatur, des künftigen Mozarts der russischen Poesie aufzuschwingen.

„Was für ein charakterloser Mensch Sie doch sind, Karamsin“, bemerkte Seine Hoheit mit einem Achselzucken. „Er spuckt Ihnen ins Gesicht, Sie wischen drüber und verhätscheln ihn weiter. Aber schön, es sei, wie Sie wünschen. Falls er vollends auf die schiefe Bahn gerät, ist es Ihre Schuld."

Höchstpersönlich schrieb Alexander I. die Erlaubnis des Zaren für die Reise nach Odessa in Puschkins Pass.

„Noch eine bescheidene Bitte, Eure Majestät“, sagte der Historiograf und wurde dabei puterrot. „Es wäre der Gipfel Eurer Gnade, Puschkin ein wenig Geld für unterwegs mitzugeben … Ich fürchte, er hat sich beim Glücksspiel ruiniert.“

 

Puschkin belegte in der imperialen Rangtabelle den zehnten von vierzehn Rängen: Kollegiensekretär. Dies berechtigte ihn zu einem steuerfinanzierten Dreigespann für seine Kutsche. Auf frische Pferde würde er unterwegs allerdings warten müssen, denn zuerst wurden staatliche Postkutschen und Beamte höheren Ranges versorgt. Die Kutsche schaffte nur siebzig Werst am Tag. Die Wälder Weißrusslands, in deren dichtem Tannenpelz bisweilen Elche den Weg versperrten und Eichhörnchen aufs Kutschendach sprangen, um mit ihrem Schwanz über die Fenster zu fegen, wichen endlich der Steppe: kahl und bleich wie Packpapier, heiß wie ein Ofen und so staubig, dass man niesen musste. Hier und da war die graue Wüste mit lilafarbenen Disteln und Federgräsern gesprenkelt.

„Noch so ein unbedeutendes Nest“, brummte Puschkin und presste seine lange Nase an die Scheibe. „Wie heißt es diesmal?“

„Zaporoschje, Eure Exzellenz“, antwortete Nikita.

An der lustlosen Straße, unter müden Pappeln, standen wacklige Häuslein. Sie lugten hervor wie die faulen Zähne eines alten Mannes. Auf dem Dorfplatz jagte ein Hahn, dem der Kamm übers Auge hing, in gemächlichem Tempo eine Henne, darauf vertrauend, dass sie sich keine große Mühe geben würde, allzu schnell davonzurennen. Auf den Zäunen hing Kochgeschirr, als hätte man abgeschlagene Köpfe auf Latten gesteckt. Von den Ställen wehte ungeduldiges Wiehern herüber. An einer Straßenecke hockte eine Zigeunerfamilie mit ihren Fiedeln und Gitarren. Die Zigeuner waren so geschwächt von der Hitze, dass sie selbst die vorbeifahrende Kutsche eines Adligen, voller Verheißung auf einen Verdienst, nicht auf die Beine brachte. Die Frauen fächelten sich mit ihren übereinander getragenen Röcken Luft zu, die Männer entblößten ihre gelockte Brust.

„Diese Gegend gleicht dir aufs Haar. Hast du nicht zur Abwechslung mal eine andere?“ jammerte Puschkin.

„Ihr schaut aus dem falschen Fenster, Eure Exzellenz“, sagte der Leibeigene Nikita.

Alexander Sergejewitsch Puschkin rutschte auf die andere Seite der Sitzbank. Das in Leder gebundene Versepos Childe Harolds Pilgerfahrt von George Gordon Byron fiel von seinem Schoß zu Boden. Die Trauerweiden lächelten matt. Das Gras, sanft wie Lammwolle, stand voller weicher, scheuer Kornblumen. Die nächste Sakkade erfasste ein steiles Ufer: ein Spiegel so breit wie ein Leben, das blaueste Blau des Dnjepr, ein Fluss wie aus einer anderen Welt. Nun glaubte Puschkin den Geschichten Gogols, jenes verrückten ukrainischen Schriftstellers, der jedes Mal vor seiner Tür stand, wenn Puschkin gerade ein Nickerchen machen wollte oder wenn er Damen empfing, egal, ob adlige oder gewöhnliche. Selten nur fliegt ein Vogel bis über die Mitte des Dnjepr. Es konnte auch kein Schiff segeln in seiner Mitte. Scharfe Stromschnellen, umtost von reißenden Fluten, machten den Fluss unbefahrbar.

„Waaahnsinn!“, schrie Puschkin über die Köpfe der Pferde hinweg. Die Tiere bremsten so heftig ab, dass Nikita mit dem Kopf an das Kutschendach knallte und der Kutscher vorn auf dem Bock, von einer Staubwolke verschluckt, einen dreistöckigen Fluch ausstieß.

Als Puschkin ausgestiegen war, entledigte er sich seiner Stiefel aus spanischem Leder und riss sich Dutzende Ringe von den Fingern: Rubin, Smaragd, Karneol, Amethyst, Türkis … eine Handvoll Geschenke von diversen Gräfinnen, die Seine Exzellenz nun dem Leibeigenen Nikita entgegenschleuderte.

„Lies sie wieder auf, alter Hund, und Gott bewahre, falls du einen einzigen Ring verlierst.“

Dann riss er sich die rote Rubaschka vom Leib, gefolgt von den maßgeschneiderten Pariser Hosen, die so viel gekostet hatten, wie ein Leibeigener in einem ganzen Jahr verdiente. Er knüllte die Kleider zusammen und warf sie Nikita hin. In seiner dunklen, geschmeidigen Nacktheit, knapp eins fünfzig groß, mit zierlichen Füßen, sprang der Dichter mit dem kompaktesten Körperbau der Welt kurz entschlossen ins Wasser, in die „brennend kalte Bestie von einem Fluss!“ Im Uferstaub suchte Nikita nach den Ringen.

„Böses Blut, teuflisches Blut, dämlicher Mohr!“

Puschkin durchsteppte den Dnjepr mit kräftigen Kraulzügen. Er näherte sich einer Stromschnelle, wurde abgedrängt von der Strömung, wieder und wieder, hielt aber hartnäckig weiterhin auf einen finsteren Felsen zu.

„Den Rubin hab ich, den Karneol auch … Smaragd, Amethyst … alle da. Aber wo zur Hölle ist der Türkis?“, grummelte Nikita am Ufer und steckte sich die im Staub aufgelesenen Ringe, einen nach dem anderen, an seine rheumatischen Finger. Keinen konnte er höher schieben als bis zum ersten Gelenk.

Alexander Sergejewitsch meisterte eine große Stromschnelle und kletterte die warmen Klippen hoch. Er lag auf dem grauen Granit wie ein glückliches Kruzifix, keuchend von der Anstrengung: Die Arme mit den hüpfenden Bizepsen ausgebreitet, presste er seine dunklen Pobacken auf den rauen Stein. Wasser tropfte aus seinen dichten Wimpern. Sein Hodensack zog sich zusammen; das Schamhaar stand hoch wie Igelstacheln.

„Dnjepr, du schwangere Wölfin!“, rief Puschkin. „Du bist voller ertrunkener Kosaken, gesunkener Türkenschiffe und riesiger Welse! Alle, alle schlummern in deinem gefräßigen Blaubauch. Mir aber hast du deinen steinernen Nippel geschenkt, an mir hast du Gefallen gefunden, das weiß ich.“

Die Flusswellen stiegen empor, königlich, indigoblau, und senkten sich wieder, leicht, blaugrün, ehe sie in himmelszartem Schaum zu des Dichters Füßen brachen. Über ihm stand müdes Himmelsblau, bleich gebrannt von der verdammten ukrainischen Sonne.

„Dnjepr, du launische Braut! Du kannst ruhig an meiner Brust wüten und meinen Spatz zausen, ihn beißen mit deiner Kälte. All das macht mich nur stärker. In hundert Jahren aber, wenn der letzte Zar tot ist, werden dich die gewaltigen Kiefer und Zähne eines riesigen Wassermahlwerks bezwingen, und eine Stadt, schön und groß genug für eine Million Seelen, wird aus deinem Schoß herausspritzen! Nikita, alter Narr, bin ich nicht prachtvoll anzusehen?“

„Schwimmt lieber zurück, Eure zähe Exzellenz, oder Ihr holt Euch das Fieber und sterbt im Frühling Eures Lebens! Was soll ich dann Ihrer Durchlaucht, Eurem Vater, sagen?“

Puschkin drehte sich auf den Bauch und presste seine gesamte Vorderseite an den Fels. Herz und Lenden wurden eins mit den Stromschnellen, der nasse Backenbart rieb den rauen Stein. Als die ukrainische Sonne ihn genug gebrutzelt hatte, sprang der Dichter wieder ins Wasser und schwamm an Land.

„Du hast ja keine Ahnung, altes Wildschwein, wie es sich anfühlt, einen sauberen Körper in dreckige Kleider zu stecken", sagte er zu Nikita, der ihm die rote Rubaschka hinhielt, damit er hineinschlüpfe. Angewidert schnüffelte er an den Achseln des Hemdes. „Du weißt ja nicht mal, was es heißt, sich zu waschen.“

„Eure unfaire Exzellenz sollten mich nicht beleidigen. Gehe ich nicht schon mein Lebtag jedes Weihnachten in die russische Banja? Wie ein Heiliger lasse ich mir den leibeigenen Dreck mit Birkenreisern abklopfen“, sagte der gekränkte Nikita mit einem Kopfschütteln und gab seinem Herrn die Ringe zurück, einen nach dem anderen.

„Dummkopf! Du denkst, ich merke es nicht, wenn du einen dünnen Ring mit einem winzigen Türkis verlierst!. Puschkin packte Nikita am Frackkragen. „Die Scheiß-Gräfin Woronzowa hat ihn mir geschenkt und dazu Diamanttränen an meiner Brust geweint, als wir uns verabschiedet haben. Lass mich raten, Scheusal – du hast ihn mir geklaut, um ihn heute Abend mit den Stallknechten zu verzocken!“

 

Die Herberge gehörte dem Juden Nahum Knoblauch und seiner fruchtbaren Frau Rosa mit ihrer Matrjoschkaherde. Knoblauch- und Zimtlocken, die jedem Kamm widerstanden. Die Frau war leichter entflammbar als Schießpulver, ihre Reize quollen aus dem Korsett. Der Ort war dermaßen provinziell, dass der Wirt noch eine gepuderte Perücke trug … in den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts!

„Ich fürchte, Eure Exzellenz wird auf Ihre frische Troika warten müssen.“ sagte Nahum und befahl seinem Stallknecht, erst einen staatlichen Postboten zu bedienen und dann einen armenischen Händler.

„Wenn ich schon warten muss und, wie es sich für einen Rebellen gehört, eine dreckige rote Rubaschka trage, so will ich in deiner Schenke zu Abend essen. Ich werde die ukrainischen Charaktere beobachten, von denen du dich ernährst“, sagte Puschkin.

„Eure edle Exzellenz“, bemerkte Nahum, „im Stall könntet Ihr noch viel mehr Eindrücke sammeln.“

„Werd nicht frech, Jude. Und mach flott, ich hab Hunger.“

Die Hühnerbrühe schmeckte meisterlich, die Käseknödel noch besser. Rosa, die Frau des Juden, servierte sie mit viel Schwung. Sie beugte sich über Puschkin in ihrem kurvenreichen Unterrock, der allerdings so undurchsichtig war wie eine Rüstung. Auf dem Kopf trug sie ein graues Haarnetz. Augenblicklich sehnte sich Alexander Sergejewitsch nicht mehr nach Boeuf Stroganoff aus dampfenden Schüsseln, nach Foie gras oder dem berühmten, sündhaft teuren Oliviersalat, der in Sankt Petersburg unter den schwingenden Kronleuchtern des Talon serviert wurde. Die Kinder des Juden schwirrten wie Fliegen um den alten Holztisch. Puschkin strich ihnen über die Köpfe, ein Zeichen volksnaher Zärtlichkeit. Die Wirtin neckte er mit der Beschreibung eines fabelhaften Schweinskoteletts von der Farbe ihrer Wangen. Er kippte ein Glas Horilka, roten Pfefferschnaps, mit derselben Leichtigkeit wie Veuve-Clicquot- Champagner zum Sonntagsfrühstück.

Die Zigeuner, wiederauferstanden nach Sonnenuntergang, spähten zum Kneipenfenster herein. Dünne, klagende Melodien ertönten von ihren Fiedeln. Eine nackte Frauenschulter schimmerte durch die Scheibe.

„Dieser Betrüger von einem Leutnant, letzte Nacht in Mogilew!“ sagte Puschkin, die Backen voller Buchweizenhonigkuchen. „Hätte ich nicht zweihundert Rubel beim Poker verloren, könnte ich jetzt diese sinnliche Schönheit des Südens einladen, damit sie ihre Nomadinnenliebe an mich verschwendet.“

 

(...)

Aus: „Puschkins Erben“ von S. Lavochkina; aus dem Englischen von D. Feuerbach © 2019 Voland & Quist