Turteltauben am Beckenrand

Leseprobe

 

Man erzählte sich, an der Kurpromenade sei ein neuer Gast aufgetaucht. Ein Inder mit Pelzmütze. Es ist zwei Tage nach Neujahr. Die Stadt liegt als verschneites Schmuckkästchen im Tal, am Grund atmet der Fluss, und die blau illuminierten Weihnachtsbäume glitzern in der Iris der Betrachter. An einem Kiosk bei den Kolonnaden hat sich der Inder eine Quellwassertasse gekauft. Sie ist weiß, flachbäuchig mit Schnabel und Goldrand und mit einer altmodischen Szenerie bedruckt, in der Damen in langen Kleidern am Arm von zwirbelbärtigen Kavalieren wandeln.

Der Inder ist barfuß. Er trägt eine grau gesprenkelte Fellmütze auf dem Kopf und ein Handtuch um die Hüften. Sonst nichts. Mit seiner Tasse in der Hand geht er von Brunnen zu Brunnen, bückt sich zu den verkrusteten Hähnen, aus denen das Heilwasser dampft, füllt sein Gefäß und trinkt. Um ihn herum flanieren Frauen in Pelzmänteln, die Kapuzen wie gefiederte Kissen über die Köpfe gestülpt, Wangen und Lippen in frostroten Farben geschminkt. Winterfeen könnten sie sein vor dieser Kulisse, die den Inder fast kolonial anmuten muss mit ihren frieslig geschnitzten Pavillions und zierlichen Parkbänken. Feen könnten sie sein ‒ wenn sie nicht ihre Ehemänner und Kinder im Schlepp hätten, und wenn sie in einer anderen Sprache tuscheln würden.

Bis zum Silvesterabend des alten Jahres hat sich der Inder mit keiner Faser seines Gemüts für das Russische interessiert, weshalb es ihn zu keiner nennenswerten Reaktion bewegen konnte. Das mag nun anders sein, denn er hält seine Ohren mit den Klappen der Fellmütze bedeckt. Er bückt sich zu den Brunnen, benetzt sein Gesicht und den nackten Oberkörper mit dem Heilwasser und singt halblaut in einer Sprache, die hier niemand versteht. Er gurgelt sogar, ehe er trinkt. Gurgeln ist so unüblich hier, dass der Mann sämtliche Blicke auf sich zieht, und weil ihm die Fellmütze schief in den Nacken gerutscht ist, wirkt er nun ganz und gar wie ein trauriger Klamauk.

Der Arme, möchte man denken, ganz allein in Karlsbad. Wo ist seine indische Busgruppe? Es gibt keine, so sieht die Sache aus. Der Mann ist allein unterwegs. Obwohl er, wie ich zugeben muss, nicht allein angereist ist. Sein Auto, ein Kleinwagen mit deutschem Kennzeichen, steht auf einem Bezahlparkplatz nicht weit vom Elisabethbad und einem Mietshaus, in dem er ein Apartment gebucht hat für den Wechsel vom alten zum neuen Jahr. Schäbiger Treppenaufgang. Über den Mülltonnen im Foyer hängt ein Spiegel. Dazu der Geruch von vergammelter Milchsuppe. Der Inder ist ein gemächlicher Typ, man bringt ihn nicht so schnell aus der Ruhe. Er ist in Kalkutta geboren und in Ermangelung einer echten Berufung früh zum Softwareingenieur geworden. Seine Kaste hat er mir nie verraten; über so etwas spricht er nicht.

Am Silvesterabend, kurz nach unserer Ankunft in der Ferienwohnung, haben wir uns beide verletzt. Erst Pradeep, dann ich. Er war vor mir ins Bad gegangen, ich hörte ihn singen unter der Dusche und ahnte schon, dass er das Bad überschwemmen würde, denn einen Duschvorhang gab es ebenso wenig wie eine Halterung für die Brause. In der Gasse vor dem Haus liefen Kellner mit Häppchentabletts. Weißbrot mit Schinken, vermutlich für Silvesterpartys. Ich räumte Pradeeps Reis, seine Gewürze und die übrigen mitgebrachten Lebensmittel in den Kühlschrank und betätigte mich wie eine deutsche Hausfrau in einer fremden Ferienwohnung: mit spitzen Fingern und Wischlappen.

Die Wohnung war eine Verlegenheitsidee gewesen, genau wie die Reise. Ich sprach mir Mut zu. Als Pradeep aus dem Bad kam, mit nassen Haaren und einem Handtuch um die Hüften, waren seine Stirn und die Brust voller Kratzer. Sie bluteten. Pradeep strahlte, weil er sich erfrischt fühlte vom Wasser, dessen Temperatur ohne sein Zutun von heiß auf kalt und wieder zurück geschwankt war. „Wechselduschen zu Silvester“ – eine Wortkombination, die seine pflaumfarbenen Lippen Mühe kostete und die er deshalb mit besonderer Sorgfalt aussprach. Das Entsetzen in meinem Gesicht riss ihn aus seinem Stolz, ich dirigierte ihn vor den Schlafzimmerspiegel und gab ihm Kleenex, damit er sich das Blut abtupfte. Schuld an den Kratzern war der tschechische Duschkopf. Die Fassung aus Aluminium war grob von Hand zugeschnitten und nicht abgeschmirgelt. Scharf wie eine Raspel, rings um die Düsen, und wer wie Pradeep duschte, voller Inbrunst und Vergessen, merkte nicht, dass er sich verletzte. Ich war gewarnt und holte mir nur einen Schürfer am Hals, der in den nächsten Tagen zärtlich gestreichelt wurde.

Wir aßen zu Abend. Vegetable Biryani, von Pradeep in der schlecht montierten Einbauküche gekocht. Draußen krachten schon Böller. Gegen elf gingen wir hinaus in die Nacht. Die Stadt lag im Nebel. Kaum was zu sehen, die Juweliersläden geschlossen, die Promenade leer, und in den wenigen Restaurants, die wir entdeckten, nur Familien und Alte. Ich wurde nervös. Ich hatte in meinen dreißig Jahren schon zu viele misslungene Silvester erlebt. Schließlich kamen wir zu einem Restaurant, dessen Fassade mit pink leuchtenden Palmwedeln dekoriert war. Es hieß Dolce Vita. In der Vitrine lagen gefesselte Hummer, auf der Terrasse unter den Wärmepilzen saßen Russinnen mit blinkenden Weihnachtsmannmützen. Ein Kellner buckelte auf uns zu, und weil Mitternacht nahte, fügte ich mich.

Das Licht im Inneren des Restaurants war weich genug, um die Scharten im Gesicht meines Freundes zu wattieren, brachte dafür aber den grünlichen Ton seiner Haut auf unschöne Weise zur Geltung. Wir waren underdressed im Vergleich zu den übrigen Gästen, und wir sprachen kein Russisch. Pradeep lachte das weg. Ich spottete über diverse Matronen im Seidenkleid, deren Truthahnhälse mit den protzigsten Juwelen behängt waren, die ich bis dahin gesehen hatte. Die Band spielte russische Schlager. Pradeep guckte auf seine Uhr, wieder und wieder, und fasste an seine linke Westentasche, in der etwas zu stecken schien. Ein kleines Etui vielleicht. Schon auf der Fahrt nach Karlsbad, in den Serpentinen des Erzgebirges, hatte er Andeutungen gemacht. Wie gut das neue Jahr für uns wird, und ähnliches mehr. Ich begann zu fürchten, dass er mir einen Antrag machen würde. Um Punkt Mitternacht, in diesem Restaurant, wenn das neue Jahr anfing und man glücklich tun musste, weil das von jeher so festgelegt schien. Ein klug gewählter Moment, in dem ich schwer würde Nein sagen können. Man konnte es auch Erpressung nennen.

(...)

Aus: „Turteltauben am Beckenrand“ von D. Feuerbach, © Kick Verlag/D.Feuerbach